Zwei Räume. Zwanzig Personen. Und eine Computerstimme, die alles und jeden beherrscht. The Lottery, ein israelisches Sozialexperiment, lässt die Grenzen des freien Willens verschwimmen.
Das Wunderbare an Radikal Jung 2014 ist ja, dass man dadurch
Sachen zu sehen bekommt, für die man ansonsten mindestens nach Berlin
fahren müsste. Dass Dinge gewagt werden, die so ungewöhnlich sind, dass
ein normales Münchner Theater um seine Stammkundschaft bangen müsste.
Aber das Volkstheater beweist wieder einmal, wie aufgeschlossen und
experimentierfreudig es ist.
The Lottery findet nicht auf dem Festivalgelände statt, sondern
in Nähe der Theresienwiese am Bavariaring. Zunächst wird man in den
zweiten Stock geführt und an einen Interviewer verwiesen. Was dann
folgt, verwirrt erst einmal gründlich. Denn neben Alter, Gewicht und
sexueller Präferenz darf man Fragen wie: “Was ist deine größte Angst?”
und “Was würde dein Kinder-Ich über dich heute sagen?” beantworten und
dann entscheiden, ob man lieber sich selbst, oder den Interviewer tötet.
Oh-Kay.
Der Strom der Kuriositäten reißt nicht ab. Ich gebe meinen Fragebogen
bei einem israelischen Kerl ab, der, wie ich später erfahre, der
Regisseur Saar Székely ist, und bekomme einen Stempel aufgedrückt. Und
zwar auf meine Stirn. Dann klebt er mir eine Nummer auf meine Jacke (41)
und erklärt mir, das Symbol des Stempels sei der erste Buchstabe im
hebräischen Alphabet, Aleph. Ich solle mir den Klang merken.
Dann wird noch eine gute dreiviertel Stunde gewartet, es sollen
schließlich alle diese Prozedur durchlaufen. Neben Aleph gibt es noch
Beth und Gimel. Nach welchem Prinzip die Buchstaben und Nummern verteilt
werden, weiß kein Mensch.
Es geht los. Wir werden in zwei Gruppen zu je ca. 20 Leuten eingeteilt, und in einen Raum geführt. Main Hall
verkündet ein Zettel an der Wand. Es gibt auch eine kleine Küche mit
Mini-Buffet und einem Kühlschrank, randvoll mit Vodka, Bier und Limo. Er
wird sich schnell leeren. Auf einem Tisch: Ein Macbook. Verstärkt durch
Lautsprecher spricht eine Damenstimme zu uns.
Welcome to The Lottery. I will be the highest authority in this
room for the next few hours. I kindly request you to remember your duty
to obey.
Wir tun, was sie sagt. Unsere Nummern werden aufgerufen, eine
Anweisung erscheint auf dem Laptop, die es zu erfüllen gilt. Anfangs
sitzen fast alle leicht panisch herum und haben Angst, etwas Schlimmes
tun zu müssen. Nach fünfzehn Minuten haben wir verstanden, dass wir alle
im selben Boot sitzen und niemand ausgelacht wird, wenn er sich zum
Affen machen muss. Man plaudert also, mit Menschen, die man sonst nie
getroffen hätte, schlürft sein Astra und achtet auf den Moment, in dem The Lottery
die eigene Nummer aufruft. Es ist ein seltsames Spiel. Und man
hinterfragt die Autorität des Computers nicht. Man macht einfach. Weil
es Anweisung ist.
Und trotz der Festivalzeitung, die gefährliche Anspielungen auf
furchtbare Aufgaben machte, bleibt der Abend in dieser Hinsicht
unspektakulär. Ich umarme Nummer 42 gleich zweimal, gewinne im
Armdrücken gegen Nummer 51 und beschimpfe Nummer 47. Man stellt sich
teilweise auch vor, spricht sich aber im Zweifelsfall nur mit den Zahlen
auf dem Aufkleber an.
Nach der ersten Stunde ist irgendwie die Luft raus. Einige Leute
brechen verfrüht ab, die Illusion, eine geschlossenen Gruppe im
totalitären Raum der Lottery zu sein, zerbricht. Schon
deswegen, weil nun Personen zu den Nummern fehlen, die irgendwie agieren
könnten. Einige fassen sich ein Herz und laufen ab jetzt mit zwei
Nummern auf der Brust herum. Das Experiment entwickelt sich immer mehr
zu einer Studentenparty, Bier und Vodka fließen in Strömen. Ab und zu
wird man um Geld angebettelt, darf Ohrfeigen austeilen oder tanzen. Aber
so richtig ernst nimmt es irgendwann keiner mehr.
Um tatsächlich einen totalitären Raum zu schaffen, müsste man Dinge
vornehmen, die höchstwahrscheinlich so schlichtweg nicht machbar sind,
weil sie Persönlichkeitsrechte verletzen und/oder illegal sind. Dennoch
hinterlässt The Lottery mehr als nur einen verschmierten
Stempel und einen Kater am Morgen danach: Die Erkenntnis, dass man nicht
gegen Manipulation und Gruppendynamik gefeit ist. Und den bedrückenden
Eindruck, dass eine echte, wahre Diktatur in unserer heutigen
Gesellschaft viel einfacher zu bewerkstelligen wäre, als man vermutet.
Saar Székely und seine Autorin Keren Sheffi haben etwas Neues,
Unvergleichbares in die Welt der Performance gesetzt. Etwas, das
zugleich sozial, psychoanalytisch und kommunikationsfördernd ist.
Letzteres ist in der heutigen Zeit der Smartphonedaddler ganz besonders
herausragend. Irgendwie ist der Zwang zum Reden ja fast schon nötig.
Gestern stand niemand mit seinem Handy da. Die musste man nämlich
ausschalten.
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