Montag, 28. April 2014

Kafkaeskes Teufelsrad

Mit Der Prozess füllt Andreas Kriegenburg seit fast sechs Jahren regelmäßig die Kammerspiele, endlich ist die mittlerweile zum Klassiker avancierte Inszenierung wieder dort zu sehen.
Kafka ist durchaus nicht jedermanns Sache. Trotzdem wird niemand an der Geschichte des Josef K., dem ohne Grund der Prozess gemacht wird, vorbeigekommen sein. Danke, Deutschunterricht.
Es ist eigentlich eine recht simple Idee: Josef ist Prokurist in einer Bank und wird am Morgen seines 30. Geburtstages noch im Nachthemd von zwei Wächtern festgenommen. Von nun an dreht sich die ganze Geschichte um diese Situation, wobei nie klar wird, ob es tatsächlich einen Prozess gibt; vielmehr verstrickt sich K. immer mehr in seine Überlegungen und Vorstellungen, was mit ihm passieren könnte. Sein Verständnis des Rechtssystems, in dem er zu leben glaubte, wie auch die wenigen Beziehungen zu seinen Mitmenschen, werden nach und nach zerstört. Dieses Einzelschicksal, das so erschütternd wie seltsam ist, endet mit seiner Ermordung. Bis zum Ende wird K. keine Ahnung haben, weshalb er angeklagt wurde.
Ein mutiger Zug, diesen fragmentarischen Roman Kafkas als Bühnenstück darzubieten. Doch es ist auch eindeutig dem Bühnenbild zu verdanken, dass diese Inszenierung so gelungen ist. Dieses, übrigens ebenfalls von Kriegenburg selbst entworfen, besteht aus einer in jeglichen Winkel dreh- und wendbaren Scheibe, an der Mobiliar festgeschraubt ist, sodass der Zuschauer wie aus der Vogelperspektive auf das Geschehen blicken kann (siehe Bild).


Ein Kraftakt für die Darsteller, denn die müssen einen festen Stand – beziehungsweise Sitz – einnehmen, um nicht von diesem kriegenburg’schen Teufelsrad zu rutschen. Aber nun wissen sie, wie es ist, in einem Bett zu liegen, während dieses senkrecht an einer Wand befestigt ist. Oder im 90°-Winkel auf einem Stuhl zu sitzen. Ein Erlebnis für alle Beteiligten.
Auch die Aufteilung der Figuren ist brillant umgesetzt. Statt fester Rollen springt der Text zwischen den Schauspielern hin und her, so sieht man letztendlich mindestens zwei Josef K.s, einen in vogelperspektivischer Position auf dem Rad und einer im normalen Stand auf der Bühne. Die spärlichen Auftritte diverser Frauenfiguren werden durch das Anziehen eines Kleides konstatiert, dennoch behalten alle DarstellerInnen ihr einheitliches Kostüm an: Anzug, glatte Frisur mit Seitenscheitel und dünner Schnurrbart. Es ist eine Mischung aus Einheit und Unterschied, aus Traumwelt und Realität, eine Inszenierung, die sich, ganz wie Kafkas Roman, dem Verständnis immer wieder entzieht und, das muss man zugeben, bisweilen viel Konzentration benötigt.


Die schauspielerische Leistung ist herausragend, selten gab es ein Ensemble, das so aufeinander eingespielt war. Kammerspiele-Urgestein Annette Paulmann glänzt mit einem fast zwanzigminütigen, wasserfallartigen Monolog und vermag es tatsächlich, damit nicht zu langweilen, und die leider mittlerweile nicht mehr fest angestellte Katharina Marie Schubert verleiht K.s Nachbarin, Fräulein Bürstner, eine zarte Weiblichkeit, die auch der obligatorische Oberlippenbart nicht zerstören kann.
Leicht verdaulich ist der dreistündige Abend sicher nicht. Aber dennoch ein Genuss, sowohl für Kafka-Fans, als auch für die Kafka-Skeptiker unter uns. Da geht man dann doch lieber hin als zum Deutschunterricht.


Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg
Kostüme: Andrea Schraad
Dramaturgie: Matthias Günter
Informationen und Spielplan unter www.muenchner-kammerspiele.de

Donnerstag, 17. April 2014

Leberkas statt Lebenslust

Es ist wieder einmal eine heimliche One-Woman-Show, die man im Werkraum der Kammerspiele sieht – diesmal jedoch ist die Inszenierung über jeden Zweifel erhaben. Susn von Herbert Achternbusch lässt eine wandelbare Brigitte Hobmeier zur Höchstleistung auflaufen.

So fängt der Theaterabend doch gut an. Frau Hobmeier läuft herum und verteilt Leberkas (oder “Leberkäääseee”, wie sie spöttisch wiederholt) an die hungrigen Zuschauer während Edmund Telgenkämper in Ruhe sein Bier trinkt. Die Stärkung wird nötig sein, wie man im Laufe des Abends bemerkt. Denn das, was uns die rothaarige Schauspielerin und ihr Sidekick in diesen eineinhalb Stunden präsentieren, ist alles andere als leichte Kost.

Das Leben von Susanne, oder Susn, wie sie alle nennen, ist zornerfüllt, radikal und einsam. “Ich wollte nicht länger in der Gemeinschaft derer bleiben, von denen ich weiß, dass ihr Glaube nur eine Kopfhaltung ist”, beichtet sie mit 17 dem Pfarrer und erklärt ihm ihren Wunsch, aus der Kirche auszutreten. Zunächst hadert sie mit der Religion, dann, zehn Jahre später, mit ihrem Leben als Studentin und ihrer Umwelt. Während eines Gewitters brüllt sie ihren Schmerz in den Donner.

Brigitte Hobmeier. Foto: Arno Declair


Weitere zehn Jahre später. Susn ist mittlerweile mit einem Schriftsteller verheiratet, der sie mit seiner Nichtbeachtung und seinem Desinteresse an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit treibt. “Du bist nur Eis”, schreit sie ihn an, während er regungslos vor seiner Schreibmaschine sitzt und das Leben seiner Ehefrau zu Stoff für seine Bücher verwertet. Sie hübscht sich auf, sie beschimpft ihn, sie berichtet von einer Affaire mit dem Gastarbeiter, doch er steckt sich nur eine Zigarette an. Das Klappern der Tasten dröhnt in die Stille hinein.

Nochmals zehn Jahre später. Susn ist gebrochen, schnapsbewaffnet sitzt sie in der Kirche und spricht zu Gott. Die Veränderung ist grotesk. Die bildhübsche Brigitte Hobmeier hat sich in wenigen Minuten zur gescheiterten, siebzigjährigen Susn verwandelt, die mit Strickjacke und Plastikregenschutzhut das Resümee ihres Lebens zieht. Es ist Schauspielkunst par excellence, die man im Werkraum bewundern darf. Und der Zyklus des Scheiterns geht unter die Haut. Mit wenigen Mitteln und einer atemberaubenden Schauspielerin hat Regisseur Thomas Ostermeir das Bild einer Frau gezeichnet, die mit den Regeln der Gesellschaft nicht zurechtkommt und trotz allen Widrigkeiten ihren Weg verfolgt. Weil am Ende nur noch Gott selbst da ist, vor dem sie sich rechtfertigen muss.

Regie: Thomas Ostermeier
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel
Musik: Nils Ostendorf
Video: Sebastian Dupouey
Dramaturgie: Julia Lochte

Bloody Shakespeare

Dass Shakespeare nicht nur aus säuselnden Romeos und sabbernden Julias besteht, sondern auch viel Raum für Versautes lässt, ist den Wenigsten bekannt. Beim Sommernachtstraum im Residenztheater finden Nymphomanie, Leidenschaft und literweise Kunstblut zu einer wunderbar lustigen, schweinischen und doch sehenswerten Inszenierung zusammen.



Heimliche Hauptdarstellerin ist Andrea Wenzl als die allen Männern den Kopf verdrehende Hermia. Sie liebt ihren Lysander (Michele Cuciuffo), was ihrem Vater Egeus (Götz Argus) jedoch gar nicht gefällt. Er hält Demetrius (Norman Hacker) für die beste Wahl; letzterer ist auch ganz vernarrt in die schöne Hermia. Was wiederum deren beste Freundin Helena (Britta Hammelstein) zur Verzweiflung bringt, denn sie ist unsterblich verliebt in Demetrius.
Lysander und Hermia fliehen in den Wald, wo die Herrscher des Elfenreichs Titania (Sibylle Canonica) und Oberon (Götz Schulte) sowie dessen Gehilfe Puck (Oliver Nägele) einen heftigen Streit austragen. Erfüllt von Hass, bringt Oberon ein Liebeszaubermittel ins Spiel, das sämtliche Beteiligten in Verwirrung stürzt.

Dieses Mittelchen, auf der Bühne als blutfarbene, dickflüssige Substanz dargestellt, wird fröhlich herumgespritzt und verwandelt die Betroffenen in sexgeile Zombies. Wer etwas von der Schmiere abbekommt, fängt mindestens an, sich in der Hose herumzugrabbeln, die meisten jedoch entledigen sich gleich ihrer Kleidung und wanken stöhnend, starrend, liebestoll auf der Bühne herum. The Walking Dead in der Shakespeare-Edition sozusagen. Der Witz dabei: Man kann es sich trotzdem gut ansehen! Selbst die ältere Generation amüsiert sich königlich. Möglicherweise gab es in den letzten Jahren auch einfach schon zu viel Nacktheit auf Münchens Bühnen, um davon noch abgestoßen zu sein. Auf jeden Fall ist Michael Thalheimers Interpretation ein Hochgenuss, die schweren Verse fliegen leicht wie die Blumen der Elfen, ein Gag jagt den nächsten und die Schauspieler präsentieren sich ohne Scham und in Höchstform. Weiß der Teufel, warum diese fantastische Inszenierung nach der Premiere als “Sommerschocker” (Abendzeitung) betitelt wurde und man von ohnmächtig werdenden Besuchern hörte. Dies ist Shakespeare, wie er sein sollte. Voller Magie, Leichtigkeit und einer großen Portion Witz.

Ein letztes Mal wird das Residenztheater den Sommernachtstraum noch zeigen; Karten dafür gibt es voraussichtlich ab Mai.

Regie: Michael Thalheimer
Bühne: Olaf Altmann
Kostüme: Michaela Barth
Musik: Bert Wrede
Dramaturgie: Sebastian Huber

Freitag, 11. April 2014

Blurred Lines - Regisseur Saar Székely im Interview


Mit The Lottery testete der israelische Regisseur Saar Székely, 29, die Grenzen des freien Willens aus - heute lässt er sich ganz freiwillig interviewen.
Gekürzt und bestmöglich aus dem Englischen übersetzt.

Welche Inspiration hattest du für The Lottery?

Die Kurzgeschichte The Lottery in Babylon des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges. Sie beschreibt, grob gesagt, eine Gesellschaft, in der alles von der genannten Lottery ausgeht. Das Interessante daran ist, dass die Lottery eine neutrale Instanz darstellt; sie wird weder als positiv, noch als negativ empfunden. Das war uns auch beim Projekt wichtig. Wir wollen nicht manipulieren, oder gar bestrafen. Es ging uns vor allem darum, einen Raum zu schaffen, in dem man frei von Identität und sozialem Status ist, um unvoreingenommen miteinander agieren zu können. To free people from identity.
Oft sagen mir die Teilnehmer auch, dass sie das Gefühl hätten, überwacht oder gefilmt zu werden. Das ist aber nicht wahr. Die erste Regel des Projekts lautet: Es wird nichts dokumentiert. Keine Fotos, keine Videos. Es würde den Moment zerstören. Dieses Interview stellt auch nur eine Ausnahme dar, weil The Lottery in München schon vorbei ist (lacht).

Welchen Zweck hatten die Interviews vor dem eigentlichen Projekt? Und warum musste man so intime Details preisgeben?

Ich sehe die Interviews als pre-performance. Die Interviewer selbst waren also eigentlich auch Performer. Zunächst hatten die Fragen natürlich den Zweck, dich auf das Folgende vorzubereiten.

Hat gut geklappt. Aber warum so seltsame Fragen?

Naja, es ging viel um Selbstreflektion, daher zum Beispiel die Frage, was deine größte Angst ist. Oder, was dein fünfjähriges Ich zu deinem heutigen Ich sagen würde.
Besonders spannend ist natürlich auch die Rolle des Interviewers. Er oder sie befindet sich in einer sehr sensiblen und verletzbaren Position. Vor allem durch die "Würdest du mit mir schlafen, ja oder nein"-Frage. Schon deswegen bin ich den Interviewern sehr dankbar, dass sie mitgemacht haben.

Siehst du The Lottery eher als ein künstlerisches, oder als ein politisches Projekt?

Das ist eine verdammt schwere Frage. Ich will eigentlich keines von beiden verneinen (lacht). Aber Kunst ist eine Form der Äußerung, die genutzt werden kann, um politische Vorgänge zu hinterfragen. Art is also an excuse. Wobei ich hier nochmals betonen muss, dass wir nichts im Sinne von Orwell's 1984 veranstalten wollten. Wir befinden uns auch hier in München in einer sehr speziellen Situation.

Warum speziell?

In Israel kennen mich viele Leute. Sie wissen, was sie erwartet, wenn sie zur Lottery gehen. Ich hatte schon Teilnehmer, die fünf, sechs Mal dabei waren, die praktisch süchtig nach dieser Identitätsaufhebung sind. Hier kaufen sich die Menschen ein Ticket und erwarten vielleicht eine klassische Theateraufführung. Da ist natürlich eine ganz andere Präsenz zu erwarten, als wenn ich das in Israel aufführe.

Ich habe von über zwölf Stunden andauernden Lottery's gelesen.

Ja, das geht aber wirklich nur, wenn wir den Teilnehmern vorher genau erklären, dass sie in dieser Situation anders agieren müssen. So sagt der Computer beispielsweise, wann man sich schlafen legen soll und so weiter. Dazu gehört eine Menge Vertrauen in den Veranstalter. Sowas wäre in München nicht machbar.

Denkst du, dass man nach The Lottery anders über seine Identität denkt?

Ich kann nur von mir reden, und mein Leben hat die Lottery definitiv verändert. Man nimmt sich und die Rolle, die man in der Gesellschaft spielt, ganz anders wahr. 

Als ich Teilnehmer war, gab es wirklich nur sehr einfache Aufgaben. Was war das Schlimmste, was man machen musste?

Wir haben, besonders in Israel, einfach Anweisungen eingebaut, bei denen wir sicher waren, dass die sowieso niemand befolgen würde. Einer der tollsten Momente bei der Lottery ist sicherlich, wenn du eines besseren belehrt wirst und einer der Teilnehmer einfach mitmacht.

Da gab es zum Beispiel eine Inszenierung in Tel Aviv, bei der der Computer die Anweisung gab, in einem abgetrennten Raum zu masturbieren und dabei laut die israelische Nationalhymne zu singen. Der Kerl hat das wirklich gemacht. Und das, obwohl die Nationalhymne sozusagen ein internes Heiligtum darstellt. Das war schon ziemlich nice.

(Anmerkung: Saar Székely vertritt offen eine sehr kritische Haltung gegenüber Israel, was in seinem Heimatland als tief beleidigend empfunden wird. Nach einer Diskussion im Fernsehen, bei der er offen die Außenpolitik kritisierte, wurden ihm vier Bodyguards zugewiesen, um ihn vor etwaigen Anschlägen zu schützen.)


Bekommt ihr in irgendeiner Weise finanzielle Unterstützung?

Nein. Israel ist wirklich die Hölle für Künstler. Diejenigen, die davon leben wollen, müssen international auftreten. Aber in Israel sind die Menschen auch irgendwie...more supportive. Wir konnten in eine Bar oder Galerie gehen, denen unser Projekt erklären und hatten sofort ihr Interesse geweckt und konnten einen ihrer Räume benutzen. Deswegen war das alles nicht besonders schwierig, finanziell gesehen. Ich glaube, in München ginge das nicht so einfach.

Wirst du bald ein neues Projekt starten?

Ich denke tatsächlich an eine Single-Performance-Show. Auf einer Bühne. Dabei hasse ich das Theater! Das Spielen einer Rolle liegt mir nicht. Ich habe mich immer selbst als performendes Subjekt gesehen. Aber ich habe einige interessante Ideen.

Wäre es wichtig für dich, den Publikumspreis zu gewinnen?

Das ist lustig, weil ich, als ich herkam, noch gar nicht wusste, dass das ein Wettbewerb ist! Eigentlich ist es mir ziemlich egal. Ich würde mich natürlich über das Geld freuen. Ich will dich nicht anlügen, ich mag Geld. Man kann so viele schöne Dinge damit machen. Leben, zum Beispiel.

Das Interview dauerte fast drei Stunden, daher waren extreme Kürzungen notwendig. Um mehr über Saar und seine Projekte zu erfahren, hier seine Website:
http://www.saarszekely.com/


Donnerstag, 10. April 2014

Fangirl overload

Bevor es mit den nächsten Reviews weitergeht..
Eyal Weiser hat meinen Artikel auf seine Facebookseite gepostet.
Der Eyal Weiser.
Ich dreh so ab.

OBEY

Zwei Räume. Zwanzig Personen. Und eine Computerstimme, die alles und jeden beherrscht. The Lottery, ein israelisches Sozialexperiment, lässt die Grenzen des freien Willens verschwimmen.

Das Wunderbare an Radikal Jung 2014 ist ja, dass man dadurch Sachen zu sehen bekommt, für die man ansonsten mindestens nach Berlin fahren müsste. Dass Dinge gewagt werden, die so ungewöhnlich sind, dass ein normales Münchner Theater um seine Stammkundschaft bangen müsste. Aber das Volkstheater beweist wieder einmal, wie aufgeschlossen und experimentierfreudig es ist.
 
The Lottery findet nicht auf dem Festivalgelände statt, sondern in Nähe der Theresienwiese am Bavariaring. Zunächst wird man in den zweiten Stock geführt und an einen Interviewer verwiesen. Was dann folgt, verwirrt erst einmal gründlich. Denn neben Alter, Gewicht und sexueller Präferenz darf man Fragen wie: “Was ist deine größte Angst?” und “Was würde dein Kinder-Ich über dich heute sagen?” beantworten und dann entscheiden, ob man lieber sich selbst, oder den Interviewer tötet. Oh-Kay.
lo

Der Strom der Kuriositäten reißt nicht ab. Ich gebe meinen Fragebogen bei einem israelischen Kerl ab, der, wie ich später erfahre, der Regisseur Saar Székely ist, und bekomme einen Stempel aufgedrückt. Und zwar auf meine Stirn. Dann klebt er mir eine Nummer auf meine Jacke (41) und erklärt mir, das Symbol des Stempels sei der erste Buchstabe im hebräischen Alphabet, Aleph. Ich solle mir den Klang merken.
Dann wird noch eine gute dreiviertel Stunde gewartet, es sollen schließlich alle diese Prozedur durchlaufen. Neben Aleph gibt es noch Beth und Gimel. Nach welchem Prinzip die Buchstaben und Nummern verteilt werden, weiß kein Mensch.

Es geht los. Wir werden in zwei Gruppen zu je ca. 20 Leuten eingeteilt, und in einen Raum geführt. Main Hall verkündet ein Zettel an der Wand. Es gibt auch eine kleine Küche mit Mini-Buffet und einem Kühlschrank, randvoll mit Vodka, Bier und Limo. Er wird sich schnell leeren. Auf einem Tisch: Ein Macbook. Verstärkt durch Lautsprecher spricht eine Damenstimme zu uns.

Welcome to The Lottery. I will be the highest authority in this room for the next few hours. I kindly request you to remember your duty to obey.

Saar Székely.
Saar Székely.

Wir tun, was sie sagt. Unsere Nummern werden aufgerufen, eine Anweisung erscheint auf dem Laptop, die es zu erfüllen gilt. Anfangs sitzen fast alle leicht panisch herum und haben Angst, etwas Schlimmes tun zu müssen. Nach fünfzehn Minuten haben wir verstanden, dass wir alle im selben Boot sitzen und niemand ausgelacht wird, wenn er sich zum Affen machen muss. Man plaudert also, mit Menschen, die man sonst nie getroffen hätte, schlürft sein Astra und achtet auf den Moment, in dem The Lottery die eigene Nummer aufruft. Es ist ein seltsames Spiel. Und man hinterfragt die Autorität des Computers nicht. Man macht einfach. Weil es Anweisung ist.

Und trotz der Festivalzeitung, die gefährliche Anspielungen auf furchtbare Aufgaben machte, bleibt der Abend in dieser Hinsicht unspektakulär. Ich umarme Nummer 42 gleich zweimal, gewinne im Armdrücken gegen Nummer 51 und beschimpfe Nummer 47. Man stellt sich teilweise auch vor, spricht sich aber im Zweifelsfall nur mit den Zahlen auf dem Aufkleber an.

Nach der ersten Stunde ist irgendwie die Luft raus. Einige Leute brechen verfrüht ab, die Illusion, eine geschlossenen Gruppe im totalitären Raum der Lottery zu sein, zerbricht. Schon deswegen, weil nun Personen zu den Nummern fehlen, die irgendwie agieren könnten. Einige fassen sich ein Herz und laufen ab jetzt mit zwei Nummern auf der Brust herum. Das Experiment entwickelt sich immer mehr zu einer Studentenparty, Bier und Vodka fließen in Strömen. Ab und zu wird man um Geld angebettelt, darf Ohrfeigen austeilen oder tanzen. Aber so richtig ernst nimmt es irgendwann keiner mehr.
Um tatsächlich einen totalitären Raum zu schaffen, müsste man Dinge vornehmen, die höchstwahrscheinlich so schlichtweg nicht machbar sind, weil sie Persönlichkeitsrechte verletzen und/oder illegal sind. Dennoch hinterlässt The Lottery mehr als nur einen verschmierten Stempel und einen Kater am Morgen danach: Die Erkenntnis, dass man nicht gegen Manipulation und Gruppendynamik gefeit ist. Und den bedrückenden Eindruck, dass eine echte, wahre Diktatur in unserer heutigen Gesellschaft viel einfacher zu bewerkstelligen wäre, als man vermutet.

Saar Székely und seine Autorin Keren Sheffi haben etwas Neues, Unvergleichbares in die Welt der Performance gesetzt. Etwas, das zugleich sozial, psychoanalytisch und kommunikationsfördernd ist. Letzteres ist in der heutigen Zeit der Smartphonedaddler ganz besonders herausragend. Irgendwie ist der Zwang zum Reden ja fast schon nötig. Gestern stand niemand mit seinem Handy da. Die musste man nämlich ausschalten.

Montag, 7. April 2014

Project ALEA #2

07.04.2014, 17:00
alea1

“We’ll start with a warmup.” sagt die Lottery mir. Draußen essen soll ich also. Kein Problem. Mittags gab’s nur ne Breze, die ich in der U-Bahn mampfte, und mittags setzte ich mich mit meinem Nudelteller einfach auf die Bank gegenüber meiner Wohnung. Ich klicke DONE an.
Die nächste Aufgabe ist es, ein YouTube-Video zu finden, was weniger als 100 Klicks hat, und es an jemanden weiterzuschicken. Nachdem ich die Filtereinstellungen entdeckt habe, finde ich tatsächlich ein Video, was keinerlei Aufrufe hat. Ob das daran liegt, dass es erst vor einer knappen Stunde hochgeladen wurde, oder weil es 25 Minuten lang jemandem beim Minecraftspielen zeigt, sei mal dahingestellt. Ich schicke es brav weiter und betätige – seltsamerweise erleichtert – den DONE Button.
Da poppt auch schon die nächste Quest auf.

alea2

Ihr wollt mich doch verarschen, denke ich mir. Wenn sie mir auch noch den Kaffee streichen wollen, streike ich. Aber ich hab gerade eh keine Zigaretten mehr, also ist die Versuchung im Moment nicht wirklich gegeben. 24 Stunden,das wäre bis 17:15 morgen. Halt ich durch. Wollte ja eh mal wieder aufhören, höhö. Irgendwie komisch, dass man wirklich versucht, diese willkürlichen Aufgaben zu erfüllen. Was wohl passiert, wenn ich versage?

Sonntag, 6. April 2014

RADIKAL JUNG // This Is The Land

Performance hoch drei 

 

Wie jedes Jahr öffnet das Volkstheater seine Pforten und ermöglicht eine Woche lang aufstrebenden Regisseuren, ihre Inszenierungen zu präsentieren.
Heute: This Is The Land, ein Projekt von Eyal Weiser.
Gleich vorweg: Dies ist keinesfalls ein klassisches Bühnenstück, vielmehr eine Performance von drei - Achtung, special - fiktiven Künstlern. Im Mittelpunkt steht Israel, der Zionismus, und die nationalen und internationalen Probleme, mit denen das Heilige Land zu kämpfen hat. Die Darsteller simulieren ein fiktives Regiefestival; eine Reaktion auf den Zionist Creation Award. Dieser vom israelischen Ministerium ausgesetzte Preis forderte israelische Künstler dazu auf, ihre Ansichten der zionistischen Werte darzustellen und wurde von Anfang an heftig kritisiert. Zionismus, so die Gegner, sollte nicht als künstlerisches Kriterium gelten dürfen. Aus diesem Grund wurde This Is The Land - The Zionist Creation Rejects' Salon geschaffen - um uneingeschränkte künstlerische Freiheit garantieren zu können und "um das Konzept des Zionismus neu zu überdenken".



Die Bandbreite der Performances ist groß. Da ist Efrat Arnon, die Fakten über Israel und Tel Aviv und die Beziehung zu angrenzenden Ländern in den Raum wirft, während im Hintergrund sepiafarbene Ausschnitte aus "The Tourist", "The Hunger Games" und "Kung Fu Panda" laufen. Das ist die wohl am schwersten zu deutende Darbietung des heutigen Abends - wenn die Identität der Akteurin fingiert ist, stimmen dann auch die Aussagen nicht?

Sie erzählt von combat dolphins, die vom israelischen Militär trainiert werden, um Minen auf dem Meeresgrund zu finden, und einer koscheren Version von Schinken, die amerikanische Forscher den Bewohnern Tel Avivs verkaufen wollen. Viel dreht sich um das Wort fake. Fake Schinken, Fake Soldaten, Fake Zionismus. Als sie die Bühne verlässt, steht ein spürbares Fragezeichen im Raum.

Danach erzählt Ayala Opfer, ihr richtiger Name ist Natalie Fainstein, ihre Geschichte über die Nachbarin Esther. Esther ist ungefähr 80 und hat Schizophrenie. Ayala beobachtet sie monatelang, versucht, dem Grund der Erkrankung auf die Spur zu kommen. Immer mehr verstrickt sie sich in Vorstellungen über das vorherige Leben von Esther, simuliert ein Tagebuch, vermutet ein Holocaustdrama. Tiefer und tiefer verwickeln sich Ayalas Ideen eines kindlichen Traumas, ausgelöst durch die Nazis, bis sie am Ende erfährt, dass Esther nie vom Holocaust betroffen war. Sie versuchte schlichtweg, den Wahnsinn ihrer Nachbarin zu rechtfertigen, indem sie ihr eine, für Juden denkbare, Biographie aufzwang. "We feel the need to create fictional biographies to protect ourselves", sagt sie am Ende. Diese Aussage wirkt. Jeder scheint sich an eine Person zu erinnern, der man selbst ein Vorleben zuschrieb, was höchstwahrscheinlich so nie stattgefunden hat. Sei es der arbeitslose Alkoholiker an der Ecke oder das vermeintliche Flittchen mit dem Vaterkomplex.

Am Ende steht Netar Weiner, der nach einer eher unspektakulären Darbietung so poetische Zeilen raushaut, dass einem die Spucke wegbleibt, einen internen Poetry Slam hatte man tatsächlich nicht erwartet. Aber er trifft einen Nerv; seine Rhymes über die Möglichkeit, gemeinsam etwas anzupacken und die alte Feindschaft zu überwinden, enden in tosendem Applaus.
Netar Weiner.
Regisseur Eyal Weiser hat mit seinem Projekt etwas einzigartiges geschaffen: Völkerverständigung, ohne den Zeigefinger zu erheben, Kritik am eigenen Land, ohne radikal vorzugehen. Selbst wenn This Is The Land nicht den Publikumspreis gewinnen sollte, werden wir bald mehr von ihm sehen: seine neueste Inszenierung Nystagmus ist ab dem 03. Mai im Volkstheater zu sehen.

Regie: Eyal Weiser
Kostüme und Requisite: Tamar Levit
Bühnenbild: Yinon Peres
Musik und Lyrik: Netar Weiner

Samstag, 5. April 2014

Project ALEA #1

Ein soziales Experiment - Die Liveübertragung



Stell dir eine Welt vor, eine Welt, in der jede Rolle und jede Handlung wahllos bestimmt wird; eine Welt, in der alles vorgegeben wird; eine Welt, beherrscht von einer allumfassenden Lottery.
Das Project ALEA, welches im Laufe von Radikal Jung im Volkstheater gestartet ist, wird mich für eine Woche lang unterwerfen, unterbricht, stört, bereichert und verändert mein soziales Verhalten. Ein Live-Experiment.

06.04.2014, 01:00


"Hello july, and welcome to Project ALEA!"
Es geht also los. Ich gebe meine Handynummer an, damit ich die Anweisungen per SMS erhalten kann. Es gruselt mich ein bisschen. Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommen wird. Es klingt irgendwie nach den Hunger Games, ich bin das Tribut. Die Website sagt, ALEA sei eine "public performance", die Teilnehmer sind gleichzeitig Zuschauer und Darsteller, jeder macht nur für sich und gleichzeitig auch für alle anderen mit. Der Computer, die Lottery, gibt jedem zufällig ausgewählte Anweisungen, die er oder sie dann befolgen muss. Zum Beispiel, in einer bestimmten Art und Weise zu gehen, zu sprechen, oder aber zu einem bestimmten Platz zu gehen, sich besonders anzuziehen, usw.
Ach du Schande, denke ich mir. Ich als kleiner Sozialphobiker soll mich seltsam verhalten? Vielleicht muss ich mich nur ein bisschen anders kleiden. Hoffe ich. Anderthalb Tage noch.

FORTSETZUNG FOLGT

Zu nett: "Ophelia" in den Kammerspielen

Marie Jung. Foto: Julian Baumann
Im Werkraum sind, ansteigend, einige Sitzbänke aufgebaut, dem Zuschauer gegenüber keine “wirkliche” Bühne, sondern ein Raum mit unverputzen Ziegelsteinen, einem Badezimmer auf einer Holzpalette und schweren, schwarzen Samtvorhängen, eine Hommage an den durch Shakespeare stets in ein tintenschwarzes Samtwams gekleideten Hamlet.

Das Premierenpublikum scheint nur aus Hustern und Raschlern und Schnäuzern zu bestehen. Marie Jung widmet sich jedem Einzelnen von ihnen, lächelt sie freundlich an und richtet ihre wenigen Worte direkt an sie. Sie ist Hamlets wenig beachtete Freundin, ein stilles, nachdenkliches Wesen, das meist beobachtet und nicht agiert. Jetzt aber berichtet sie.

Das Interessante dieser Inszenierung ist sicherlich das Unbehagen des Publikums, mit dem gespielt wird. Die ersten dreißig Minuten kann man sich nicht in die sonst übliche Jemand spielt – Ich sehe zu-Konstellation bequemen, das Licht ist sowohl auf die Darstellerin, als auch auf die Zuschauer gerichtet. Außerdem sind zwischen den gesprochenen Worten so viele Pausen, dass jedes Knarzen, jedes Hüsteln und jeder Atemzug unglaublich laut klingt, der Verursacher eines Geräuschs wird sich sofort selbst als Störenfried betrachten.
Nach einer halben Stunde: ein fingierter Stromausfall. Endlich ist es dunkel, man spürt förmlich, wie sich alle aus ihrer Starre erwachen und endlich alles erledigen können, was sie zurückgehalten haben, sei es ein Bonbon aus der Packung zu pfrimeln, der Raucherlunge ihren verdienten Hustenanfall zu können oder sich mit dem Nachbarn auszutauschen. Endlich wieder Zuschauer sein. Ophelia erzählt mit ihrer freundlichen, aber bestimmten Tonlage weiter über die Tragödie Hamlets und streut brav die bekannten Zitate wie “Es ist was faul im Staate Dänemark” und “Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage” ein. Dennoch kommt nie so richtig Spannung auf, vermutlich, weil Ophelia nie andere Emotionen als ihre hintergründige Freundlichkeit zeigt. Man wünscht sich fast, sie würde sich mal so richtig aufregen. Aber sie lächelt nur.

Marie Jung ist zweifelsohne ein zauberhaftes Persönchen, das trotz ihres jungen Alters eine Präsenz zeigen kann, von der manch anderer Schauspieler nur träumen mag. Dennoch reicht dies nicht aus, um Raum und Text auszufüllen. Die Idee ist gut, die Umsetzung ist es nicht. “Mehr Inhalt, weniger Kunst!”, wie es schon in Hamlet heißt.

Premiere am 03.04.2014
Regie: Kristof van Boven
Dramaturgie: Matthias Günter
Bühne und Kostüme: Sina Barbra Gentsch

Donnerstag, 3. April 2014

Grenzenlos: WestSideStory im Deutschen Theater

'www.deutsches-theater.de

Gangs N' Guns


Über ein halbes Jahrhundert ist Leonard Bernsteins amerikanische Romeo-und-Julia-Adaption nun alt, und trotzdem begeistert sie noch immer Tausende. Es ist Mittwoch Abend und halb München will WestSideStory sehen.
Die Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria, die aus unterschiedlichen Ländern, Verhältnissen und Gangs stammen, hatte bereits 1957 ihre Uraufführung und gilt als eines der erfolgreichsten Musicals der Welt. Der Erfolg gründet einerseits auf der typischen Bernstein’schen Ohrwurmmusik (I Feel Pretty wird man nach der Aufführung natürlich nie wieder los), der ausgezeichneten, mitreißenden Choreographie von Broadway-Urgestein Jerome Robbins und der tragischen Story über das Überwinden von Grenzen zugunsten der Liebe. Die, wie man weiß, nicht besonders gut endet. Aber das ist den Besuchern egal, lullt man sich doch zu gern in Tonys Liebesschwüre und verträumte Gesänge über seine Liebste Maria ein, anzuhören hier.
Es gibt allerdings ein bisschen zu viel Hass in dieser Story, um tatsächlich zu glauben, dass die Liebe hält. Die zwei verfeindeten Gang, die Sharks und die Jets, bekämpfen sich seit eh und je, die Amis hassen die “PR’s”, die Puertoricaner, und die PR’s hassen die Amis. Die Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und fehlender Toleranz ist eigentlich ein so großes und wichtiges Thema, dass es erfreut, es so ausführlich in einem Musical behandelt zu sehen. Schlussendlich fordert die Rivalität ihr Opfer. Und ganz wie in der Shakespeare-Vorlage, stirbt Romeo in Julias Armen, erschossen. Was einen bitteren Beigeschmack angesichts der immer noch andauernden Waffendebatte in Amerika hat. Welch ein Ende für ein Musical. Der Liebste tot, die Gangs zerschlagen und weggesperrt, übrig bleibt nur eine trauernde Maria und der Sonnenaufgang über den Dächern von New York.
WestSideStory sollte eigentlich jeder einmal gesehen haben. Die Inszenierung im Deutschen Theater beeindruckt durch die Originalchoreographie, fantastische Sänger und, was im Musical tatsächlich nicht immer gegeben ist, schauspielerische Höchstleistung. Viel Applaus für das New Yorker Ensemble.

Link zu WestSideStory im Deutschen Theater 

Regie: Joey McKneely Musical Supervisor / Erster Dirigent: Donald Chan Bühnenbild: Paul Gallis Kostümbild: Renate Schmitzer

Dienstag, 1. April 2014

In your face: "Faust" im Volkstheater

Halt's Maul, Ulrike!

 

Lang, lang ist's her, da wurde ein junger Bonner, selbst ausgebildeter Schauspieler, vom Volkstheater als Gastregisseur engagiert, um Goethes Faust einen neuen Anstrich zu verpassen. Seit 2008 sind ein paar Jährchen vergangen, und Simon Solberg taucht immer noch im Volkstheater auf. Faust war nur der Anfang, danach folgten in kurzen Abständen Die Jungfrau von Orleans, Einer flog über das Kuckucksnest und zuletzt 2012 Moses - Ein Mash-up Musical. Wie gut, dass sich da eine deutliche Entwicklung im Regietalent zeigt.

Justin Mühlenhardt, Stephanie Schadeweg, Andreas Tobias, Jean-Luc Bubert | © Gabriela Neeb/VT München

Denn dieser Solberg'sche Faust ist vor allem eins: überladen. Die Einstiegsidee ist ja gut. Faust (Jan Viethen) ist der Leiter einer Forschergruppe im CERN, die sich auf die Suche nach der Formel, "die die Erde im Innersten zusammenhält", gemacht hat. Er verzweifelt immer mehr an sich selbst und verpasst es auch gefühlte fünfzig Mal nicht, vor dem Publikum über sein unnützes Studium der "Philosophie, Juristerei und Medizin / Und leider auch Theologie" zu jammern. Die Forschung steckt in einer Sackgasse, und Grete (Barbara Romaner) will ihn auch nicht.
Hilfe ist auf dem Weg. Erst als nackender Pudel, dann als Osama Bin Laden, schlussendlich sogar als gekreuzigter Jesus gibt Jean-Luc Bubert einen genüsslich Zitate salbadernden, hauptamtlichen Mephisto. Grete und Gollum haben offenbar gemeinsame Vorfahren, als sie ihr Verführungsgeschenk in Empfang nimmt, reißt sie es an sich und schreit "Mein Schatz!". Und es werden RAF-Witzchen eingebaut ("Halt's Maul, Ulrike!"). Der Zuschauer sieht sich einem wilden, ausgelassenen, schwer verständlichen Spektakel gegenüber, wobei der Großteil der Konzentration darauf verwendet werden muss, die eingebauten Anspielungen und Scherze zu so ziemlich jedem aktuellen Thema dekodieren zu können. Sogar Friedrich Liechtenstein ("Sehr sehr geil. Supergeil.") hat es in den Text geschafft.

Jan Viethen, Jean-Luc Bubert | © Gabriela Neeb/VT München

Die wenigen ruhigen Szenen gehen im vorherigen Klamauk leider völlig unter. Zu sehr ist man auf Witz und Wahnsinn fixiert, als dass man Mitleid mit der verlassenen Grete hat oder mit der Wimper zuckt, wenn sich Faust am Ende das Hirn rauspustet.
Die Bühne aber ist schlichtweg ein Meisterwerk. Mit Hilfe von Sebastian Hannak hat Solberg ein variabel verwendbares Kunstwerk aus Müll, Pflanzen und Styropor geschaffen, das die Darsteller in unendlichen Kombinationen auseinandernehmen, zusammenbauen und sogar anziehen können, eine "Recycling-Bühne" sozusagen.
Fazit: Wer sich sehr sehr wach fühlt und sich noch zusätzlich ein paar Dosen Energydrink mit in die Vorstellung nimmt, der dürfte größtenteils mitbekommen, was auf der Bühne abgeht. Einige Witze sind auch verdammt gut. Aber Goethefans dürfte das kalte Grausen ereilen und für die Ü40-Generation könnte alles ein wenig zu laut und zu chaotisch sein. Dann lieber in Moses - Ein Mash-up Musical gehen, der Inszenierung sieht man nämlich Solbergs vierjährige Reifezeit an.

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Premiere am 02.10.2008
Regie: Simon Solberg
Bühne und Kostüme: Sebastian Hannak