Bonbonfarbene Abgründe
Sohel Altan G., Jean-Luc Bubert | © Arno Declair / Volkstheater München |
Bunt reicht hier nicht mehr aus. Die Farben, die Stefan Hageneier auf die Bühne des Volkstheaters verfrachtet hat, zerfressen einem fast schon die Netzhaut. Knallpink, Giftgrün, strahlend Weiß sind die Kostüme, in Kombination mit der hellgelben Guckkastenbühne erinnert alles an ein Bild von Roy Lichtenstein. Es ist blendend, plastisch, grell.
Erst später wird der hintere Teil der Bühne zu sehen sein, ein nebelwabernder Teich mit Schilf, in dem die Protagonisten plantschen, sich lieben, verschwinden.
Überzeichnung ist das Stichwort zu Ödön von Horváths Werk, das Erich Kästner als "Wiener Volksstück gegen das Wiener Volksstück" bezeichnete. Persifliert wird das Klischee der berühmten "Wiener Gemütlichkeit", die menschlichen Abgründe hinter der heilen Fassade, die Tragödie des "süßen Wiener Mädels".
Das Mädel ist hier Marianne (Lenja Schultze). Rote Bäckchen und rote Zöpfchen hat sie, und heute soll sie den Fleischhauer Oskar ehelichen, worüber sie gar nicht glücklich ist. Pascal Fligg als jenen erkennt man fast nicht wieder, er trägt Bauch, Halbglatze und Schnauzer und deklamiert Kalendersprüche. Aber er liebt das "Marianderl" heiß und innig und trägt seinen besten orangefarbenen Anzug. Als Geschenk überreicht er ihr eine Wurst.
Die Hochzeit hätte reibungslos vonstatten gehen können, wenn nicht Max Wagner als schmieriger, aber dennoch charmanter Herzensbrecher Alfred aufgetaucht wäre. Er verführt Marianne nach einigen Annäherungsversuchen während eines Badeausfluges zum Stelldichein. Sie bekommt - wie könnte es anders sein - ein Kind und wird unmittelbar von Vater (Jean-Luc Bubert) und Gesellschaft ausgeschlossen. Der soziale Abstieg beginnt. Unglücklich und verarmt leben Marianne und Alfred des Kindes wegen zusammen, bis "Freund" Havlitschek (Sohel Altan G.) ihr eine Stelle als Nackttänzerin im Maxim offeriert. Das Kind kommt zur Großmutter, Alfred bandelt wieder mit seiner Ehemaligen, der verbrauchten, aber geldigen Valerie (Ursula Maria Burkhart) an und Oskar prophezeit: "Du wirst meiner Liebe nicht entgehen, Marianne." Er wird recht behalten.
Pascal Fligg, Lenja Schultze | © Arno Declair / Volkstheater München |
Erst gegen Ende wird das Ausmaß des psychischen, später auch physischen Missbrauchs, dem Marianne ausgesetzt ist, deutlich, das brutale Ende erschüttert das vormals so vom Amüsement eingelullte Gemüt des Zuschauers beträchtlich.
Stückls Strichfassung mit nur etwa der Hälfte der eigentlich angegebenen Charaktere ermöglicht eine clowneske Verzerrung des Menschlichen, die einerseits belustigt, andererseits furchtbar erschreckt. Ganz im Brecht'schen Sinne wird der Verfremdungseffekt genutzt,
um die Figuren wie in einer Raritätensammlung auszustellen, sie zu bestaunen, sich zu gruseln. Die Schauspieler unterstützen diese Illusion mit brilliantem Können, jeder kitzelt das Maximum an Komplexität aus seiner Figur heraus. Es ist ein wahrer Genuss, ihnen beim Spielen (und Singen) zusehen zu dürfen, nicht nur, weil alle unverschämt gut aussehen.
"Geschichten aus dem Wiener Wald" dürfte Stückls berührendste, ja vielleicht sogar beste Arbeit am Volkstheater sein. Den Spagat zwischen Witz, Wahnsinn und Wahrheit beherrscht er wie kein anderer. Zusammen mit dem Talent des jungen Ensembles und der außergewöhnlichen Bühne, ergibt sich eine ergreifende, bösartige und dennoch saukomische Inszenierung.
Link zu Geschichten aus dem Wiener Wald im Volkstheater
Premiere am 25.03.2013
Regie: Christian Stückl
Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier
Musik: Michael Gumpinger