Bereits mit
This Is The Land feuerte der israelische Regisseur
Eyal Weiser im Rahmen von Radikal Jung 2014 ein wildes Gemisch aus Video, Theater und Performance ab – das neueste Bühnenwerk
Nystagmus ist nun im Volkstheater zu sehen.
Eins vorweg: Wenn man öfter mal ins Volkstheater geht und das
Ensemble kennt, ist das Ganze nur halb so spannend. Denn dann weiß man
sofort, dass dieses Projekt nur fingiert ist. Andererseits müsste diese
“Kunstausstellung” ziemlich durchgeknallt auf Zuschauer wirken, die
ihren Fuß zum ersten Mal in dieses großartige Haus setzen.
Der Kurator Anton Ehrlich – es ist
Oliver Möller mit
Bart – hat insgesamt neun Künstler eingeladen, die ihrerseits eigene
Performances und Werke darbieten werden. Wirkliche, echte, existierende
Kunstschaffende sind davon nur wenige
, zu ihnen gehört aber unter anderem
Rami Maymon, der das Titelbild zur Austellung gestaltet hat.
Nystagmus – das ist ein Krankheitsbild, bei dem die Augen
unkontrolliert zu zittern beginnen. Adolf Hitler “diagnostizierte” es
bei modernen Künstlern, da deren Ansichten nicht mit seiner
Weltanschauung übereinstimmten. Der Untertitel
Eine große deutsche Kunstausstellung existiert ebenfalls als Anspielung auf die hitler’sche Titelgebung der beiden Exhibitionen
Entartete Kunst und
Große deutsche Kunstausstellung, wie sie 1937 in München veranstaltet wurden.
Man fürchtet eine weitere, fingerhebende Konfrontation mit der
deutschen Vergangenheit. Doch schon beim Einlass zeigt sich, dass dieser
Abend anders werden wird. Man kommt von hinten auf die Bühne, wo eine
vielleicht fünf mal fünf Meter große Installation aus Holzbalken
aufgebaut wurde, innerhalb der einige Objekte dargeboten werden: Zwei
Goldbarren, ein in Dauerschleife laufendes Video von zwei tanzenden
Menschen, sowie ein auf dem Boden sitzender Mensch in einem sehr
seltsamen Kostüm, der die Vorbeiziehenden unter seiner riesigen, aus
Stroh und Papyrus gebauten Kopfbedeckung beobachtet. Anschließend,
eingeschüchtert in der ungewohnten Situation, sich
auf einer Bühne zu befinden, lässt man sich erleichtert auf die Plätze fallen.
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Max Wagner. Foto: Arno Declair |
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Nach einer kurzen Einführung durch Anton Ehrlich, beginnt
Nystagmus mit dem Deutsch-Israeli Uriah Rein-Merchav. Und auch wenn er androgyn kostümiert ist, erkennt man Volkstheater-Schönling
Max Wagner sofort. Sein Werk, als
connecting dots bezeichnet,
zeigt das Portrait einer Frau, das er nicht mit Farbe, sondern mit
einer Schnur zeichnet, indem er sie mit an der Wand montierten Punkten
verbindet. Im Hintergrund wird die Lebensgeschichte der Dargestellten,
Emma, skizzenhaft erläutert. An Schizophrenie erkrankt, wird sie 1944
von den Nazis hingerichtet. Schnitt. Rein-Merchavs Großvater Georg Rein
hilft bis 1945 den Nazis beim jüdischen Massenmord und wird danach
Richter in der DDR. Die totale Verdrängung gelingt, am Ende erlöst ihn
Alzheimer von etwaigen Rückständen im Gedächtnis. Schnitt. Reins Tochter
Helene will die Schuld ihres Vaters kompensieren und entflieht der BRD
in ein israelisches Kibbuz, wo sie einen Mann mit dem Nachnamen Merchav
heiratet, der zu Uriahs Vater werden soll. Er stirbt vor der Geburt
seines Sohnes im Libanonkrieg. Uriah stellt sich nun dem Dämon, der
seine Familienbiographie heimsucht und verbindet Ahnenforschung und
Vergangenheitsbewältigung. Eine bewegende, romantische, traurige
Performance.
Man könnte fast beleidigt sein, sobald man erkennt, dass sie nur erfunden ist.
Max Wagner, den man bisher nur als zwar ästhetisch hochwertigen, aber
dramaturgisch eher unspektakulären Schauspieler zu sehen bekam,
verblüfft durch eine atemberaubende Perfomance (echte Tränen!) und
szenische Präsenz, die Geschlechtergrenzen sprengt. Chapeau, der Junge
kann was!
Danach: Eine Seance, dargeboten vom Medium Sybille Lang (
Ursula Maria Burkhart) und ihrer Tochter Felicitas (
Lenja Schultze), ufert aus, als die “zufällig aus dem Publikum gerufene” Kunstsammlerin Frau Fitschen (
Mara Widmann)
durch den Geist eines Verstorbenen den Standort des Kruzifixs von
Ludwig Gies finden will. Letzteres war ebenfalls Bestandteil der
Ausstellungen Hitlers und würde nun ein Vermögen wert sein. Doch anstatt
von Ludwig Gies channelt Sybille Lang einen gewissen Alois, der sich
als von Adolf beklatschter Jesus-Darsteller der Oberammergauer
Passionsspiele herausstellt. Eine gelungene Spitze auf die Habgier, die
auf dem Kunstmarkt herrscht. Und ein paar esoterisch angehauchte
Zuschauer betrachteten das Geschehen auf der Bühne mit so heiligem
Ernst, dass man das fast auch schon als Performance ansehen konnte.
Lustig, aber zu lang.
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Oliver Möller. Foto: Arno Declair |
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Die Gebrüder Sturm (
Leon Pfannenmüller und
Johannes Meier)
nehmen die Irrungen und Wirrungen der Werbung aufs Korn. Mit der
Performance “Werbeunterbrechung” wird nur durch den Ausspruch einiger
Slogans ein Geschlechtsakt simuliert, während im Hintergrund ein
Zusammenschnitt aus Werbeclips, Pornoszenen und nebulösen
Psychodelika-Videos läuft. Es ist wahnsinnig witzig und gleichzeitig
erschreckend, weil man zu jedem Slogan sofort den Hersteller im Kopf
hat. “Für das Beste im Mann” war da noch das einfachste, aber ohne
Probleme ordnet das liebe Hirn jeden noch so dummen Spruch dem passenden
Werbenden zu. Da hinterfragt man dann schon seinen Medienkonsum.
Immerhin kam keine Seitenbacher-Werbung.
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Jean-Luc Bubert. Foto: Arno Declair |
Zum Schluss schießt Bruno Spatz (
Jean-Luc Bubert)
den Vogel ab. Unterstützt von seiner Lebensgefährtin Magdalena
Wiedenhofer, diese adrett im schlumpfblauen Einteiler, begleiten wir ihn
in seiner Performance “Mein MutterMund”, beobachten ihn und versuchen,
einen interpretatorischen Ansatz zu finden. Und werden herrlichst
verarscht, als die beiden uns mit Hitler-Manier “Wollt ihr die TOTALE
INTERPRETATION?” entgegenschreien und klar wird, dass diese Sequenz rein
darauf abzielte, uns in unseren Bemühungen zu vergackeiern. Spatz ist
der Künstler, den wir in Berliner Galerieräumen antreffen, umgeben von
in der Interpretation seiner Werke zu Höchstleistungen auflaufenden
Kunstkritikern, er präsentiert Scheiße als Gold und ist damit
erfolgreich. Er ist der Kunstschaffende der Gegenwart, eine dieser
Personen, denen man “Ist das Kunst oder kann das weg?!” auf den Körper
tätowieren möchte. Es ist die durchgeknallteste, aber auch die
kreativste Darbietung, und auch hier geht es um Auseinandersetzung. Mit
dem eigenen Ego, mit dem Kunstmarkt, mit Kritikern. Es ist eine
Bullshitparty, die erst im Nachhinein richtig wirkt.
Eyal Weiser hat zwar für einige klassische WhatTheFuck-Momente gesorgt, aber der Zauber von
Nystagmus liegt
wirklich in seiner Nachwirkung. Mehr Raum für Diskussion gab es bei
einer Inszenierung selten. Wenn auch das Konzept teils etwas zu
chaotisch war, so ist die Idee der Fiktion, die uns als Wahrheit
verkauft wird, ein starker und nachdenklich stimmender Ansatz. Wieder
einmal muss man dem Volkstheater und seinem Adoptivvater Christian
Stückl applaudieren. Danke, dass es in Schickeria-München einen Platz
für Kreatives gibt.
Regie: Eyal Weiser
Fotographie und Konzept: Rami Maymon
Kostümbild: Muslin Brothers
Informationen und Spielplan: www.muenchner-volkstheater.de